Knistern, Knattern, Rauschen… Von der provozierten zur komponierten Störung

"Zwei kurze, nur wenige Minuten dauernde Stücke, ‚Choral‘ und ‚Serenade‘, beide von Antonio Russolo komponiert, als unangenehme Zugabe leider starkes Knistern und Rauschen."[1]

Die Hörerwartungen Fred K. Priebergs an den bei Recherchen zum italienischen Futurismus gehobenen Schatz,[2] an die zwei auf einer Schellackplatte gespeicherten Kompositionen Antonio Russolos, des Bruders des Erfinders der legendären intonarumori, waren hoch. Prieberg hatte dieses damals "einzige tönende Zeugnis futuristischer Musik" von der Witwe Luigi Russolos erhalten,[3] hatte es von Luciano Berio im Mailänder Studio di Fonologia Musicale technisch aufbereiten lassen und konnte es schließlich als Tonbandumschnitt abhören. Anstelle der erhofften futuristischen Geräuschmusik eines Ensembles von intonarumori tönte ihm jedoch eine "kuriose Verschmelzung italienischer Volkskunst mit bestimmten stilistischen Eigenarten der ‚Musica Futurista‘ von Pratella" entgegen,[4] noch dazu untermalt von den Störgeräuschen des antiquierten und stark beanspruchten Speichermediums.

Die späten Hoffnungen an das klingende Zeitdokument, die auch der höchst interessierte Berio teilte,[5] waren an den manifesten Zukunftsentwürfen und emphatischen Appellen der Urbruitisten gewachsen und an dem europaweiten öffentlichen Interesse, das nicht zuletzt durch die skandalumwitterten Aufführungen der ersten Geräuschkompositionen Luigi Russolos hervorgerufen worden sein dürfte. In seiner Veröffentlichung L’arte dei rumori von 1916, die neben seinem erstmals 1913 publizierten sogenannten Manifest zehn weitere Kapitel umfaßt, in denen der komponierende Maler und experimentierende Geräuscherforscher unter anderem seine in weiten Teilen durchaus fundierten Forschungsergebnisse präsentiert, aus denen er einige physikalisch-akustische Kurzschlüsse zieht – in diesem Entwurf einer Geräuschkunst gibt Russolo auch eine Beschreibung der tumultuösen ersten Aufführung mit den Worten eines "Korrespondenten von Pariser Zeitungen" wieder, die das Spektakel illustriert:[6]

"Auf der Bühne: 23 Intonarumori, das heisst, 23 sehr fremdartige Kisten in lebhaften und verschiedenartigen Farben, strotzend von Rohren, Drehgriffen und Hebeln. Hinter einem jeden ein Orchestermusiker, totenbleich vor der drohenden Schlacht. In der Mitte der Bühne Luigi Russolo, schmal, wendig, im Smoking, mit scharfgeschnittenem Gesicht, rötlichem Spitzbart, der alles mit hocherhobenem Stab beherrscht, bereit, das Startzeichen zu geben.

Zur Rechten sehen wir plötzlich seine futuristischen Genossen, aufrecht und bereit zur Verteidigung, in einer gedrängten Gruppe aus der sich Marinetti heraushebt, zur Rampe vorrücken. Im Saal eine enorme Menschenmenge. Logen, Parkett und Galerie zum Bersten voll. In vollständiger Stille fordert Marinetti mit bebender Stimme vom Publikum das Vertrauen, das notwendig sei, um die grosse künstlerische Entdeckung von Russolo zu würdigen. Seine entschlossenen und von verdeckten Drohungen vollen Worte werden mit grossem Applaus bedacht. Aber nach wenigen Takten der ersten Geräuschspirale Erwachen einer Stadt wollen die Traditionalisten, die sich bisher zurückgehalten hatten, die Aufführung um jeden Preis unterbrechen. Das Getöse wird ohrenbetäubend; die Futuristen leisten während einer Stunde unerschütterlich Widerstand… Die Aufführung der Spiralen geht weiter.

Am Anfang der dritten (Spirale) ereignet sich etwas Ausserordentliches: Marinetti, Boccioni, Armando Mazza und Piatti verschwinden von der Bühne, treten aus einem Türchen in den leeren Orchestergraben, den sie rennend durchqueren, stürzen sich auf die ersten Parkettreihen und überfallen die zahllosen, von Dummheit und Vergangenheitswut berauschten Traditionalisten mit Fäusten, Ohrfeigen und Prügeln.

Die Schlacht im Parkett dauert ungefähr eine halbe Stunde, während Luigi Russolo auf der Bühne unbeirrt fortfuhr, sein Intonarumori-Orchester zu dirigieren.

Ein bemerkenswertes Zusammentreffen von blutiggeschlagenen Gesichtern und Geräuschharmonien in einem höllischen Getöse. Die Schlacht von Ernani wird im Vergleich mit diesem Handgemenge etwas vergleichsweise Nichtiges.

Alle futuristischen Schlachten sind bis zu diesem Tag auf den Strassen, in den Gängen der Theater und nach den Aufführungen entbrannt. Zum ersten Mal sind Künstler, nachdem sie eine Stunde auf der Bühne gestanden haben, in zwei Gruppen geteilt, von denen eine mit der Kunstausübung auf der Rampe fortfuhr, während die andere in das Parkett hinabstieg, um das feindliche und pfeifende Publikum zu überfallen und zu verprügeln. Wie die Eskorte einer Karawane sich gegen die Tuareg der Wüste wehrt; wie die Infanterie in breiter Aufstellung manchmal den Bau einer Militärbrücke schützt.

Die Futuristen gingen als geübte boxeurs bis auf wenige Kratzwunden heil hervor. Die Traditionalisten hatten elf Verletzte, die in die Notfallstation überführt wurden."

Das hier beschriebene Außerordentliche mag man als ein frühes medienwirksam inszeniertes Happening interpretieren,[7] das die Zuhörer aktiv (und in diesem Fall betont körperlich) in das Geschehen einbinden sollte – die Bereitschaft des Publikums jedenfalls zu einer tendenziösen und tatkräftigen Anti-Aktion war laut Russolo von vornherein vorhanden:

"Das Publikum lief zusammen und drängte sich im grossen Theatersaal, aber es wollte nicht zuhören. – Diese riesige Menge hat bereits unter grösstem Lärm eine halbe Stunde vor Beginn der Aufführung mit einem Tumult begonnen, und die ersten Wurfgeschosse regneten von den Galerien auf den noch geschlossenen Bühnenvorhang… So hat das Publikum an diesem Abend nichts gehört, weil es vorzog, selbst nicht intonierte Geräusche zu machen!

Also: man pfeife, heule und werfe Geschosse (obwohl das Werfen keine heroische Tat ist), nachdem man etwas gehört hat, das einem nicht gefiel, das würde man verstehen… Schwierig ist es indessen zu begreifen, dass man ins Theater geht, für die Plätze bezahlt, um nicht hören zu wollen!"[8]

Was Russolo hier kritisierend anmerkt, wird für den Manifeste komponierenden Kopf der Futuristen, Marinetti, der willkommene Auftakt zu seiner Aufführung gewesen sein. Denn nicht etwa sind die Geräuschkompositionen Russolos der Inhalt des Konzerts – dem "unbeirrt" (s. o.) dirigierenden Russolo kommt lediglich eine Statistenrolle zu, eine Marionette für Marinetti, sozusagen, seine Musik ist nur untermalendes, Anlaß stiftendes und aufgrund seiner avantgardistisch provokativen Skandalträchtigkeit für Marinetti willkommenes positives Störgeräusch der Gesamtinszenierung – die Performance folgt vielmehr den fordernden Aufführungsanweisungen Marinettis, die dieser bereits 1911 in seinem Manifest der futuristischen Bühnendichter aufgestellt hatte: "Wir Futuristen fordern von den Autoren vor allem die Verachtung des Publikums und besonders die Verachtung des Premierenpublikums".[9]

Der provozierte Skandal bzw. – allgemeiner – die Störung wird hier zum Inhalt und dies in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wird aus den eine natürliche Klangschönheit herausstellenden Beschreibungen von Geräuscheigenschaften, der (recht unsystematischen) Katalogisierung von Geräuscharten, dem Bemühen um wissenschaftliche Fundierung und seinem eindringlichen Appell an die Unvoreingenommenheit des traditionalistischen Zuhörers deutlich, daß Russolo selber auf eine Ästhetisierung des Geräuschs und eine Sensibilisierung der Rezipienten bezüglich einer auditiven Geräuschschönheit abzielt;[10] die Verhinderungsversuche der konservativen Zu- bzw. Weghörerschaft wirkten dieser Intention Russolos entgegen. Zum zweiten mußten auch Marinettis eigentliche Absichten, das Konzert zur Anti-Kunst-Aktion zu nutzen – aus Russolos Sicht, die nötige Einsicht in Marinettis Absichten vorausgesetzt: zu mißbrauchen – einem akustischen Geräuschgenuß entgegenwirken. Und zum dritten verstörte Marinetti das seinerseits um Störung bemühte und schließlich verprügelte Publikum, was in Marinettis Hinsicht freilich zu einer potenzierten Störung und damit zum eigentlichen Gelingen der Aktion beitrug.

Auch aus den Berichten Russolos über die anschließende erfolgreichere Konzertreihe in London und weiteren Stellen seines L’arte dei rumori wird deutlich, daß dem Maler-Musiker zwar das Störpotential seiner Geräuschkompositionen und Instrumente bewußt war, daß es ihm aber eben nicht um die Provokation des Publikums und auch nicht um die bilderstürmerische Destruktion von Tradition ging.[11] Vielmehr schwebte ihm eine musikalisch nutzbringende Klangmaterialerweiterung vor, eine Gleichsetzung von musikalischem Ton und musikalisiertem, komponierbarem Geräusch, insgesamt ein Entwurf einer erweiterten Ästhetik der Geräusch-Tonkunst, auf den die vielzitierte Eingebung Ferruccio Busonis, "Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert",[12] nicht zutreffender sein kann. Das den Geräuschtönern entgegengebrachte Interesse seitens so namhafter Komponisten wie Varèse und Strawinsky gründete sich denn auch auf eine solche in Aussicht gestellte kompositorische Verfügbarmachung des Geräuschs bzw. Erweiterung des Klangfarbenspektrums, freilich nicht im Sinne einer der abendländischen Notenschrift und den darin zentralen Qualitäten Tonhöhe und Tondauer verpflichteten Tonkunst, der Russolo trotz einer durchdacht weiterentwickelten graphischen Notation und der futuristischen Enharmonik, die er sich bei Pratella abgeschaut hatte, konzeptionell verhaftet blieb. Seine überwiegend mechanisch funktionierenden intonarumori gelangten nie über einen Einsatz im futuristischen Freundeskreis hinaus.

Das Bedürfnis nach neuen Klangmöglichkeiten und neuen Ausdrucksmitteln hatte auch auf einem anderen, mit einer vielversprechend moderneren Aura umgebenen Sektor Fuß gefaßt: auf dem der Elektrizität. Und auch hier zeigten sich die Musikschaffenden höchst interessiert und der hellsichtige Busoni hatte auch diese Entwicklung im Blick, als er in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst seine Hoffnungen auf das um 1900 erbaute Dynamophone von Thaddeus Cahill projizierte.[13] Die Entwicklungslinie einer elektrisch inspirierten Instrumentenbaugeschichte reicht allerdings viel weiter zurück, ins Jahr 1730, sie beginnt ebenfalls mit einem inszenierten Störfall:

"Denis d’or, ein elektrischer Mutationsflügel mit 1 Pedal, erf. 1730 von dem mährischen Prediger Prokop Diviš zu Prendnitz bei Znaim. Das Instrument war 5 Fuß lang und 3 Fuß breit, mit 790 Saiten bezogen, die 130 Veränderungen erleiden und dennoch in einer Zeit von Dreiviertelstunden gestimmt werden konnten. Vermöge dieser Einrichtung konnten darauf die Töne ziemlich aller Blas- und Saiteninstrumente nachgeahmt werden. Auch war ein unzeitiger und ortswidriger Scherz dabei angebracht, indem der Spieler des Instruments so oft einen elektrischen Schlag erhielt, als der Erfinder es wollte."[14]

Ähnlich wie bei den Aufführungen futuristischer Kunst scheinen auch hier Musik und Körperverletzung eine enge Bindung einzugehen. Der Spieler dieses ersten elektrifizierenden Musikinstruments – auf den bemerkenswerten, latent mitspielenden Aspekt einer elektrischen Mensch-Maschine- bzw. Spieler-Instrument-Kopplung sei hiermit hingewiesen – hatte wohl, sobald er unter Strom gesetzt wurde, hierauf musikalisch zu reagieren. Die damit geborene Kunst der schmerzverzerrten Interpretation wurde einstweilen nicht weiter verfolgt, obwohl auch
der Instrumentalist eines fast zeitgleich erfundenen Klangerzeugers "zunächst immer einen elektrischen Schlag bekam".[15] Beim clavecin électrique des französischen Jesuiten Jean Baptiste de La Borde verschiebt sich der innovative Schwerpunkt jedoch auf eine elektrifizierte inhumane (soll heißen: nun ohne Zwischenschaltung eines menschlichen Widerstandes) Klangsteuerung, indem ein zwischen zwei elektrisch aufgeladenen Glocken beweglich aufgehängter Schlägel aufgrund elektrostatischer Kräfte abwechselnd die beiden Glocken zu mechanischen Schwingungen anstieß.[16] Für eine elektrische oder gar (mechanisch-)elektronische Klangerzeugung standen die Mittel noch nicht bereit.

Neben der grundlegenden Erforschung elektromagnetischer Wechselwirkungen (Hans Christian Ørsted, André Marie Ampère) Anfang des 19. Jahrhunderts, weiterführender Entdeckungen im Bereich der Stromerzeugung (Luigi Galvani, Alessandro Volta) gegen Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang der 1830er Jahre (Michael Faraday) war es schließlich die Entwicklung der Fernmeldetechnik von der Elektrifizierung der Telegraphie bis zur Einführung der Telephonie, die die Zusammenhänge zwischen akustischen Schallwellen und elektrischen Wechselströmen publik machte und die notwendigste Voraussetzung schaffte für die Konstruktion von Elektrophonen, die zugleich ihr Erkennungsmerkmal ist: den elektroakustischen Wandler, der in Form des Telephons und dessen prinzipiell umkehrbarer Funktionsweise bereits die akustische Abstrahlung elektromagnetischer Wellen sowie deren Erzeugung in sich vereinte. Tatsächlich zeichnete sich dieses die Phantasien von Technikern wie Musikschaffenden gleichermaßen erregende Tele-Instrument zunächst durch eine ihm eigene, klangerzeugende und klangverarbeitende Kreativität aus. Die bei den ersten musikalischen Fernübertragungsversuchen mit den aufnehmenden und abstrahlenden telephonischen Geräten erzielte klangfarbliche Vielfalt wurde allerdings schnell als technische Störung mißinterpretiert, die eigen-artigen Zugaben zu unerwünschten Verzerrungen erklärt und eine von offenbar unmusikalischen Ingenieuren dominierte Entwicklung der Telekommunikation in Gang gesetzt, die sich in ihren Auswirkungen bis heute unter dem Hauptaspekt des humorlosen Kampfes mit dem Signal-Rausch-Abstand lückenlos nachzeichnen ließe.

Interessanterweise waren es aber wieder Ingenieure (und bezeichnenderweise sehr musikalische), die diese Entwicklung Ende der 1940er Jahre zurück in musikalische Bahnen lenkten. Sich des inzwischen weitgehend interpretationslosen Mikrophons bedienend, nahmen die Pariser Akteure der musique concrète Umweltgeräusche aller Art auf – inzwischen hatte auch die Weiterentwicklung der Klangspeicherungstechnik in Richtung einer nichtlinearen Unverzerrtheit eingesetzt –, um diese anschließend durch kompositorisch kontrollierte technische Manipulationen einer ursprünglichen Musikalität zurückzuführen. Die ebenfalls technisch vorgebildeten Kreativen Kölner Provenienz gingen anfangs der 1950er Jahre noch einen Schritt weiter. Sie ignorierten das Mikrophon ganz, ebenso die inzwischen zur Verfügung stehenden elektrophonischen Spielinstrumente, und bedienten sich statt dessen der Geräte der Meß- und Rundfunktechnik, um das Grundmaterial ihrer Werke in einem ersten Arbeitsschritt zu generieren. Ganz im Sinne der Erfinder dieser Instrumente, die zum Zweck des bereits erwähnten Strebens nach Maximierung des Signal-Rausch-Abstands bzw. zum Aufspüren technischer Störungen entwickelt worden waren, war bei derartiger Komposition von Klängen das Interesse auch der Komponisten groß, möglichst verzerrungsfreie Töne beispielsweise vom Sinustongenerator möglichst rauscharm auf dem Magnettonband zu speichern (dies gilt übrigens zunächst prinzipiell auch für die Erzeugung von Grundmaterial mittels Rauschgenerator). Bei der anschließenden Verarbeitung der Klanggrundstoffe hingegen bedienten sich die elektronisch inspirierten Komponisten und die ihnen zur Seite gestellten Toningenieure ebenfalls der Meß- und Prüfgeräte sowie der sogenannten "’aktivierten‘ Magnettontechnik",[17] um genau diese zuvor vermiedenen linearen wie nichtlinearen Verzerrungen neuerdings herbeizuführen.

Aus Sicht eines Technikers ließe sich der konkrete technisch-kompositorische Prozeß sowie die technikgeschichtliche Entwicklung allgemein als ein zeitlich weit hergeholter und den Kompositionen Elektronischer Musik zudem immanenter Rückkopplungseffekt deuten, der, grob gezeichnet, vom recht gleichberechtigten Aussenden von Signal und Rauschen der frühen Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien zunächst zur Verstärkung des Nutzsignals führte (durch Elimination der Störungen), damit die hierein investierte Energie schließlich zu einer verstärkten Störung des Signals ausgenutzt werden konnte, das dann einerseits zwar als ein stark verzerrtes, andererseits aber erwünschtes – und, musikalisch uminterpretiert, wieder störungsfreies – Signal erneut den rauschenden Speichermedien oder gar einem häufig ebenfalls verstörten Publikum zugeführt wird. Oder aus Sicht des Komponisten: Störungen werden kompositorisch nutzbar.

Als ob der erste Toningenieur des Studios für Elektronische Musik des WDR genau diese Sichtweise musikgeschichtlich verankern wollte, ersann Heinz Schütz ein dann von den Komponisten häufig eingesetztes, symbolträchtiges technisches Verfahren: die sogenannte Rückkopplungs-Iteration. Durch verdrehte Anordnung von Wiedergabe-, Lösch- und Aufnahmekopf eines Magnettongeräts konnte man hiermit ein "Signal, das einmal aufgenommen war, nochmals in die Aufnahme zurückschicken. Dann entstehen diese Erscheinungen, die man als Rückkopplungs-Iterationen bezeichnet".[18] Unter anderem war es damit möglich, das zunächst unverzerrte Ausgangssignal – Schütz nennt als Klangquelle beispielhaft den Schwebungssummer, der im Idealfall technisch reine Sinustöne liefert, die, aus musikalischer Sicht, "kein Charakteristikum [hatten] – sie waren fade"[19] – bei entsprechend eingestelltem Verstärkungsgrad am Wiedergabekopf durch Übersteuerung bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. Ein akustischer Ton wurde dadurch zum musikalisch nutzbaren Geräusch.

Vielleicht um diesen Prozeß der Überführung eines Signals durch eine technische in eine musikalisierte Störung in seiner sinnbildlichen Bedeutsamkeit für die Elektronische Musik noch einmal zu manifestieren, entwickelte Volker Müller, Toningenieur des WDR-Studios seit Anfang der 1970er Jahre, die Rückkopplungsschaltung weiter zu einer potenzierten vierspurigen. Nach Deaktivierung der Löschköpfe werden hierbei alle Wiedergabe- und Aufnahmeköpfe eines Vierspurtonbandgeräts rückkoppelnd in eine Art geschlossene Reihenschaltung gebracht, um nun, bei Verzicht auf jede externe Tonquelle, einzig aus dem Eigengeräusch des Speichermediums Rauschklänge zu generieren.[20] Das (trotz aller technischer Bemühungen immer noch vorhandene) Klirren des Tonbands wird somit thematisiert, indem dieses Eigenrauschen, der Klang des Mediums, vom Wiedergabekopf abgenommen und verstärkt und dann zum Aufnahmekopf geführt wird, um anschließend vom Tonband zum nächsten verstärkenden Tonkopf transportiert zu werden…

Mit diesem – vielleicht geschärft verzerrten – Blick auf die nicht immer eindeutig bewertbare Klanglichkeit der Medien läßt sich das eingangs gegebene Zitat Priebergs – er hatte gerade die Schellackplatte, von der er sich futuristische Geräusche erhofft hatte, abgehört – eventuell etwas anders lesen:

"Zwei kurze, nur wenige Minuten dauernde Stücke, ‚Choral‘ und ‚Serenade‘, beide von Antonio Russolo komponiert, als […] Zugabe […] starkes Knistern und Rauschen."

[1] Prieberg: Musica ex machina, S. 41.
[2] In Priebergs Worten: "In jenem unscheinbaren Schweizerhaus in Cerro di Laveno breitete die Signora Russolo manche Schätze vor mir aus, schließlich aber entnahm sie einer Schatulle mit geheimnisvoller Miene etwas Einzigartiges: eine uralte Schallplatte. Ich sollte futuristische Musik hören. Allerdings verfügte die Signora nur über ein baufälliges Kurbelgrammophon, und ich wollte die kostbare Schellackplatte vor der kratzenden Stahlnadel bewahren." Musica ex machina, S. 40f.
[3] Ebd. S. 41. Die beiden kurzen Aufnahmen sind in mp3-kodierter Form, also nochmals klanglich reduziert, im Internet abrufbar unter http://luigi.russolo.free.fr/music.html (Stand: 4.4.2002).
[4] Prieberg: Musica ex machina, S. 42.
[5] Laut Prieberg, ebd. S. 41.
[6] Russolo: L’arte dei rumori, in einer schweizerischen Übersetzung von Justin Winkler und Albert Mayr: Luigi Russolo. Die Geräuschkunst, S. 22f., zit. nach der Online-Publikation unter http://www.rol3.com/vereine/klanglandschaft/dok2/dok2frame.html (Stand: 4.4.2002).
[7] Für eine Medialisierung des Spektakels sorgte nicht zuletzt Marinetti selbst, der laut Prieberg (Musica ex machina, S. 36f.) Urheber einer Reportage über dieses Konzert in einem Pariser Boulevardblatt gewesen ist und aufgrund deutlichster inhaltlicher wie stilistischer Parallelen auch der Autor des hier von Russolo zitierten oder aber paraphrasierten Artikels sein dürfte.
[8] Russolo: L’arte dei rumori [Übersetzung Winkler, Mayr], S. 21f.
[9] Zit. nach Danuser: Wer hören will, muß fühlen, S. 101; zur These von der bewußten Störinszenierung dieser
konkreten Aufführung seitens Marinettis vgl. ebd. U. a. konstatiert Danuser allgemein für die Mailänder Futuristenabende (und für diesen besonders treffend), es stehe "der Skandal sowohl am Anfang als auch am Ende. Statt Wirkung und Folge von Kunst ist er ihr Inhalt und Zweck. Damit wird aus dem ‚Skandal der Kunst‘ die ‚Kunst des Skandals‘." (S. 97).
[10] Vgl. Russolo: L’arte dei rumori [Übersetzung Winkler, Mayr].
[11] Ganz im Gegenteil sieht Russolo seine Geräuschkunst als konsequentes Ziel der musikgeschichtlichen Entwicklung von einer linearen Kontrapunktik über eine wohlklingende Harmonik zur modernen Hinwendung zu komplexeren Dissonanzen; vgl. ebd. S. 10.
[12] Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 34. Oder mit Russolos Worten: "Auch ist der musikalische Ton in der qualitativen Vielfalt der Klangfarben zu beschränkt. Die kompliziertesten Orchester lassen sich auf vier oder fünf Instrumentenklassen zurückführen, die sich in der Klangfarbe des Tones unterscheiden […]. So dass sich die moderne Musik mit der vergeblichen Anstrengung, neue klangfarbliche Spielarten zu schaffen, in diesem engen Kreise dreht.", L’arte dei rumori [Übersetzung Winkler, Mayr], S. 11.
[13] Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 44f.
[14] Curt Sachs: Real-Lexikon der Musikinstrumente, Berlin 1913, S. 108; zit. nach Sitter: Das Denis d’or, der dort die Frage, ob dieses Instrument "Urahn der ‚elektroakustischen‘ Musikinstrumente" gewesen sei, beantwortet: "Für eine geschichtliche Verankerung der Elektrizität in der Klangerzeugung ist das Denis d’or nicht geeignet, sieht man von den klanglichen Resultaten ab, die der durch den elektrischen Schlag erschreckte Spieler unfreiwillig zustande brachte."
[15] Preußner: Musik und Technik in der Geschichte der Musik, S. 136; laut Preußner unterrichtet der Erfinder selbst über diese und viele weitere Einzelheiten in seinem Buch von 1761 mit dem Titel Le Clavessin, electrique avec une nouvelle theorie du mechanisme et des Phénomenes de l’eléctricité Par le R. P. Delaborde, de la Compagnie de Jesus (Titel [sic] zit. nach ebd. S. 134).
[16] Vgl. ebd. S. 135f.
[17] Humpert: Elektronische Musik, S. 64; vgl. die dortigen Beschreibungen S. 64-71.
[18] Heinz Schütz zit. nach Morawska-Büngeler: Schwingende Elektronen, S. 41.
[19] Heinz Schütz zit. nach ebd.
[20] Diese Rauschklänge werden übrigens, durch Filterungen weiter verarbeitet, in den Formabschnitten 4 bis 7 der Komposition Horizont (1971-72) von York Höller verwendet; siehe Humpert: Elektronische Musik, S. 142f. Aus der dort abgedruckten Tabelle wird auch deutlich, daß die mit den Geräten der Meß- und Rundfunktechnik realisierten klangerzeugenden und -verarbeitenden technischen Prozesse form- und strukturbildend für die Komposition sind.

Literatur:

Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1916.

Danuser, Hermann: Wer hören will, muß fühlen – Anti-Kunst oder die Kunst des Skandals, in: Dietrich Kämper (Hg.): Der musikalische Futurismus, Laaber 1999, S. 95-110.

Humpert, Hans Ulrich: Elektronische Musik. Geschichte – Technik – Kompositionen, Mainz 1987.

Kämper, Dietrich: Artikel "Futurismus", in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ausgabe, Sachteil 3, Kassel u. Stuttgart 1995, Sp. 975-984.

Morawska-Büngeler, Marietta: Schwingende Elektronen. Eine Dokumentation über das Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln 1951 – 1986, Köln 1988.

Preußner, Eberhard: Musik und Technik in der Geschichte der Musik, in: Leo Kestenberg (Hg.): Kunst und Technik, Berlin 1930, S. 117-139.

Prieberg, Fred K.: Musica ex machina. Über das Verhältnis von Musik und Technik, Berlin 1960.

Russolo, Luigi: L’arte dei rumori, Milano 1916, in einer Übersetzung aus dem Italienischen von Justin Winkler und Albert Mayr: Luigi Russolo. Die Geräuschkunst, Basel und http://www.rol3.com/vereine/klanglandschaft/ 1999.

Sitter, Peer: Das Denis d’or: Urahn der ‚elektroakustischen‘ Musikinstrumente?, http://www.uni-koeln.de/phil-fak/muwi/publ/fs_fricke/sitter.html 1995, laut der Online-Angaben auch in: Wolfgang Auhagen/Bram Gätjen/Klaus Wolfgang Niemöller (Hg.): Festschrift Jobst Peter Fricke zum 65. Geburtstag, Köln 1995 [vermutlich aber unveröffentlicht].