Großlautsprecherforschung in der Weimarer Republik

Die weiter oben zitierte Meldung in der Elektrotechnischen Zeitschrift von 1920 über die Absichten Western Electrics, eine Beschallungsanlage auf den Markt zu bringen, bezeichnet Karl-Heinz Göttert, offenbar bezogen auf deutschsprachige Publikationen, als den "möglicherweise frühesten Beleg für die Konstruktion von Lautsprechern unabhängig vom Rundfunkbetrieb".[1] Vielleicht gibt diese Nachricht tatsächlich eine Anregung für den größten deutschen Elektrokonzern, eigene Forschungen für den Bau von Großlautsprechern zur Massenbeschallung einzuleiten.[2] Wenige Zeit später jedenfalls werden in den Forschungslaboratorien von Siemens & Halske systematische elektroakustische Untersuchungen in dieser Richtung begonnen mit dem hochgesteckten Ziel, Geräte für eine so genannte "klanggetreue" oder "lautgetreue Schallübertragungsanlage" zu entwickeln. Aufgrund dieser Zielsetzung ausgeschlossen sind von vornherein die dann vielfach für den Rundfunkempfang verwendeten elektromagnetischen Wandler, die konstruktionsbedingt stets und zumal bei größeren Lautstärken Verzerrungen erzeugen. Außerdem steht man bei Siemens der Verwendung von Schalltrichtern, entgegen dem amerikanischen Trend, skeptisch gegenüber, weil auch sie aufgrund ihrer Resonanzeigenschaften klangverfälschend wirken.[3]

Die bis 1924 unter anderem aufgrund einer internen Konkurrenz zwischen mehreren Forschungsstätten erzielten Ergebnisse fast Hans Riegger in dem grundlegenden Aufsatz "Zur Theorie des Lautsprechers" zusammen.[4] Riegger stellt seine mathematischen Berechnungen zu tiefabgestimmten elektrodynamischen und elektrostatischen Lautsprechern (und auch zu Mikrofonen) für eine "lautgetreue Schallübertragungsanlage" im Frequenzbereich von 100-5000 Hz vor, um diese dann auf drei bei Siemens gebaute Modelle anzuwenden: auf das im Forschungslaboratorium konstruierte "elektrodynamische Blatt", das Riegger in seinem Aufsatz bereits mit der nachfolgend verbreiteten (Marken-)Bezeichnung ‚Blatthaller‘ anspricht, auf den im Zentrallaboratorium des Wernerwerks entwickelten "Bändchenlautsprecher" und auf einen "elektrostatischen Haller". Während sich letzterer nicht bewährt, wird der Bandlautsprecher bereits 1924 in "Die Wunder der Fernmeldetechnik" besprochen und "dem großen Kreis der Radio-Amateure", an den sich dieses Buch richtet, als schallwandelndes Hilfsmittel empfohlen,[5] um im selben Jahr sein eigentliches Potential bei einem ersten öffentlichen Einsatz zu demonstrieren, indem er mehreren tausend vor dem Kölner Dom Versammelten eine Kardinalsrede zu Gehör bringt.[6]

Und 1925 dann beweisen Bandlautsprecher und Blatthaller bei der Einweihung des Deutschen Museums in München gemeinsam ihre mathematisch hergeleitete Tauglichkeit im praktischen Einsatz auf offenbar überzeugende Weise:

"Es ist dieses Fest eine Art Markstein in der technischen Entwicklung der elektrischen Übertragung von Musik und Rede an einen großen Kreis von Menschen, in einer Vollkommenheit, wie sie bisher noch nicht erreicht war […]."[7]

Ferdinand Trendelenburg, seit 1922, dem Jahr seiner Promotion, Mitarbeiter im Forschungslaboratorium der Siemenswerke in Berlin, wird die Museums-Beschallung ein Viertel Jahrhundert später ebenfalls als Markstein für die Entwicklung von Massenbeschallungstechnik in Deutschland bewerten. Als frisch ernannter Leiter des Forschungslaboratoriums der Siemens-Schuckertwerke in Erlangen greift Trendelenburg dies Initialereignis wieder auf, um im September 1950 einen Vortrag mit dem Titel "25 Jahre klanggetreue Schallübertragung" zu halten. Im Schreibmaschinenmanuskript zu diesem Vortrag schreibt Trendelenburg einleitend:

"Am 7.5.1925 fand in München die feierliche Eröffnung des Deutschen Museums statt. Der Schöpfer des Deutschen Museums, Oskar v. Miller hatte hierzu der deutschen Technik die Aufgabe gestellt, die bei der Eröffnungsfeier und beim Festmahl gehaltenen Reden in den Räumen selbst durch Lautsprecher zu verstärken und sie auch grösseren Zuhörermassen, welche sich auf dem einige Kilometer entfernten Königsplatz befanden, durch Lautsprecher hörbar zu machen. Weiterhin hatte er gewünscht, dass die Festmusik in die Festräume durch Lautsprecher übertragen werden sollte.
Die von Oskar v. Miller gestellte, für damalige Verhältnisse als sehr schwierig zu bezeichnende Aufgabe wurde mit vollem Erfolg gelöst. Trotzdem die laboratoriumsmässige Entwicklung der für die Lösung verwendeten Geräte zum Teil in die Jahre 1923/1924 zurückreicht, glaube ich, dass man den 7.5.1925 als das eigentliche Geburtsdatum der klanggetreuen Schallübertragung bezeichnen darf […]."[8]

Mit modernster Siemens-Technik ausgestattet – neben Blatthallern und Bandlautsprechern auch Kondensator- und Bändchenmikrofone sowie laut Trendelenburg gerade entwickelte, in einem weiten Frequenzbereich gleichmäßig arbeitende RC-Verstärker – begibt man sich bereits im März von Siemensstadt nach München, um sechs Wochen lang vor allem raumakustische Probleme zu lösen, die sich im Labor nicht gestellt hatten. Beantwortet wird beispielsweise bereits die im Zusammenhang mit den Senderäumen des Rundfunks vieldiskutierte Frage nach dem aufnahmetechnisch sinnvollsten Absorptionsgrad. Nachdem sich die an den Experimenten teilnehmenden Musiker weigern, weitere Proben in einem stark gedämpften Raum zu machen, aus dem die Übertragung in den Festsaal stattfinden soll, wird letztlich auf den nur mit wenigen Filzvorhängen ausgestatteten Orgelraum des Museums zurückgegriffen, um "recht günstige Übertragungsmöglichkeiten" zu erhalten.[9]

Im Mittelpunkt der elektroakustischen Versuche allerdings stehen die Ansprachen, ihre möglichst rückkopplungsfreie Verstärkung innerhalb des Festsaals und die möglichst gleichmäßige Beschallung der rund 2000 erwarteten Gäste, zudem die Außenübertragung von Reden und Musik bzw. die damit verbundene Massenbeschallung im Freien. Zur Lösung dieser Aufgaben experimentieren die Elektroakustiker vor allem mit den beiden Beschallungsstrategien, wie sie bereits bei den frühen amerikanischen Massenbeschallungen erprobt worden waren: mit der zentralen Beschallung durch einen Großlautsprecher oder weniger, dicht nebeneinander aufgestellter Schallstrahler sowie mit der dezentralen Beschallung mittels vieler im gesamten zu beschallenden Bereich aufgestellter Lautsprecher kleinerer Leistung. Beide Möglichkeiten finden schließlich bei der Einweihung des Deutschen Museums in München ihre Bestimmung: Während der akustisch problematische Festsaal mit 7 gleichmäßig verteilt aufgestellten Blatthallern beschallt wird, werden mehrere tausend auf dem Königsplatz und bis zum Obelisk auf dem Karolinenplatz versammelte Menschen mit Musik und den Reden aus dem Festsaal durch zentrale bzw. durch frontale Beschallung versorgt, wobei die frontale Beschallung, bei der mehrere Großlautsprecher in einer Linie vor dem Versammlungsplatz aufgebaut werden, eine Variante der zentralen Beschallung darstellt.

"Dieses erste größere Experiment"[10] veranlasst den Siemens-Konzern, weitere praktische Versuchsreihen zu initiieren. Um raum- und psychoakustische Erfahrungen zu sammeln, werden in den Jahren 1925 bis 1927 die Siemens-Wissenschaftler bei Massenbeschallungen vor Ort sein, um mit Mikrofon- und Lautsprecheraufstellungen zu experimentieren. Kleinere und große Innenräume, akustisch schwierige wie der Kölner Dom und unproblematischere wie die zu Massenveranstaltungen genutzten Berliner Hallen, unter anderem der Sportpalast, werden mit Bandsprechern und Blatthallern in zentraler, frontaler und verteilter Aufstellung beschallt, um schließlich zu einem differenzierten Urteil zu kommen: Für "Räume mit ausgesprochener Hallwirkung (Überakustik)" empfehle sich "die weitgehende akustische Aufteilung des Saales auf zahlreiche Lautsprecher nicht allzu großer Einzellautstärke", bei akustisch unproblematischen Bedingungen sei es allerdings meist möglich,

"den Raum mit einem einzigen Lautsprecher sehr großer Leistung zu füllen und dabei in allen Punkten der Halle ausreichende Sprachverständlichkeit zu erzielen. Eine derartige Anlage hat beispielsweise im Berliner Sportpalast in der Potsdamer Straße bei sportlichen, politischen und ähnlichen Veranstaltungen mit vollem Erfolg gearbeitet. 10000 bis 20000 Personen konnten mühelos das ganze gesprochene Wort aufnehmen."[11]

Wie bei Western Electric einige Jahre zuvor, wird man auch bei Siemens & Halske die psychoakustische Erfahrung machen,

"daß die Wiedergabe der Sprache des Redners auf allen denjenigen Plätzen als mangelhaft empfunden wird, von denen aus der Redner gesehen werden kann, der Schall aber nicht merklich in der Richtung vom Redner her zum Beobachter kommt. Wir werden also, um einen erträglichen Eindruck und eine ungezwungene Haltung des Hörers auf allen Plätzen zu gewährleisten, die einzelnen zur Wiedergabe benutzten Lautsprecher so anzuordnen haben, daß der von ihnen ausgehende Schall nach Möglichkeit in der Richtung vom Platz des Redners aus fortgeht."[12]

schmaler Blatthaller
Blatthaller in schmaler Ausführung von Siemens & Halske (Fischer/Lichte 1931: Abb. 155).

Für stark nachhallende Innenräume greift man daher bei Siemens ab 1927 bevorzugt auf Blatthaller in schmaler Ausführung zurück, die aufgrund ihrer besonderen Abstrahleigenschaften den auf den Redner verweisenden Ortungseffekt bei richtiger Aufstellung bewirken. Unterstützt wird diese Absicht, auch bei verteilt aufgestellten Lautsprechern eine möglichst natürlich wirkende Rezeptionssituation zu schaffen, von den Bemühungen um eine ‚lautgetreue‘ Schallübertragungsanlage, die den Eigenklang der Geräte und damit das Medium selbst verschwinden lassen könnten.[13] Und für Massenbeschallungen im Freien, die in der Regel als akustisch unproblematisch angesehen und daher bevorzugt zentral oder frontal beschallt werden, steht zudem der leistungsstarke Blatthaller in quadratischer Form zur Verfügung, der bis 1929 noch zum Hochleistungs-Riesenblatthaller weiterentwickelt wird und bis weit in die 1930er Jahre hinein der mit Abstand schallstärkste Großlautsprecher zumindest in Deutschland sein wird.

Durch die Entwicklung elektroakustischer Spitzenprodukte und durch die Intensivierung der Forschung in den Siemenslaboratorien im elektrotechnischen, raumakustischen und auch phonetischen sowie klanganalytischen Bereich gelingt es dem Elektrokonzern in wenigen Jahren, sich auch im langsam an Bedeutung gewinnenden Bereich der elektroakustischen Massenbeschallung als tonangebende Kompetenz nicht nur in die Fachliteratur einzuschreiben. Meyers Lexikon von 1927 beispielsweise führt exemplarisch oder synonym für elektrodynamische Lautsprecher ausschließlich Geräte von Siemens & Halske an, neben Bändchenlautsprecher und Blatthaller auch einen Faltlautsprecher (die Bezeichnung bezieht sich auf die spezielle Form der Membran, gemeinhin auch als Popofalte bezeichnet). Letzterer wird im Lexikonartikel gleich zweimal genannt: im Abschnitt über Lautsprecher zur "Wiedergabe von Fernkonzerten mit großer Klangreinheit bei erheblicher Verstärkung in großen Sälen" und vorher bereits im einleitenden Teil, der sich auf Rundfunklautsprecher und daher auf elektromagnetisch angetriebene Wandler konzentriert.[14] Tatsächlich wird der Faltlautsprecher ab 1926 auch in der leistungsschwachen Variante für den Heimgebrauch angeboten und von Siemens unter dem Markennamen ‚Protos‘, von der Tochtergesellschaft Telefunken als Arcophon vermarktet. Im Rundfunkgerätesektor allerdings steht Siemens von Beginn an eine große Anzahl von in- und ausländischen Konkurrenten mit gleichwertigen oder preiswerteren Produkten entgegen.

Siemens-Werbeprospekt 1930
Werbeprospekt Siemens & Halske, vermutlich 1930, [Siemens-Archiv, München, 35-79/Le717].
Den Vorsprung im Bereich der Großbeschallungstechnik hingegen kann der Großkonzern bis zum Ausklingen der Weimarer Republik verteidigen. Prestigeträchtige öffentliche Aufträge wird vorzugsweise Siemens erhalten, darunter die bis 1930 ausgeführten Festinstallationen von Beschallungsanlagen im Stadtverordneten-Sitzungssaal des Berliner Rathhauses, im Plenarsaal des Preußischen Landtags, im Sitzungssaal des Völkerbundes in Genf – dem die USA trotz der lautstarken Bemühungen Woodrow Wilsons nicht beigetreten waren, dem Deutschland seit 1926 angehörte. Und auch der Deutsche Reichstag wird 1929 elektroakustisch aufgerüstet. Im Plenarsaal werden 2 Blatthaller zur Frontalbeschallung und Protos-Lautsprecher auf der Pressetribüne und am Platz des Reichstagspräsidenten installiert; eine zweite Anlage, bestehend aus 140 Protos-Lautsprechern, dient der Beschallung der Wandelgänge, der Bibliothek, des Restaurants, der Fraktions- und Arbeitszimmer des Reichstagsgebäudes.[15]

Auch bezüglich Massenbeschallungen im Freien kann Siemens & Halske 1930 im Titel einer Firmendruckschrift selbstbewusst verkünden: "Keine Massenversammlung ohne Siemens-Großlautsprecher", was auf der dritten Seite des Prospekts noch ausführlicher lautet: "Kein Sportfest, keine Ausstellung, keine Massenversammlung ohne Siemens-Großlautsprecher".

1 Göttert 1998: 423.
2 Walter Schottky, einer der maßgeblich an der Großlautsprecherforschung bei Siemens beteiligten Physiker, nennt den Herbst 1920 als Anfangspunkt der Versuche in diesem Bereich (Schottky 1924: 673). Erste bedeutende Ergebnisse werden ab Januar 1923 zum Patent angemeldet (DRP 442661, DRP 421038).
3 Positive Eigenschaften werden den Trichterlautsprechern in Deutschland frühestens ab 1929 wieder zugesprochen. Für den Rundfunkempfang bereits seit längerem als lautverstärkende Klangverfälscher abgelehnt, konzentriert man sich in den erst 1928 gegründeten elektroakustischen Forschungsstätten der AEG im Bereich der Lautsprecherforschung auf die Verbesserung der Druckkammernaufsätze, um sie dann vor allem in die Tonfilmtheater einzubauen und mit der modernen, dem angloamerikanischen Sprachgebrauch abgelauschten Bezeichnung ‚Hornlautsprecher‘ zu vermarkten. Die Forschungsergebnisse sind dokumentiert in den "Jahrbüchern des Forschungs-Instituts der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft", der "Erster Band. 1928-1929" erschien 1930.
4 Riegger 1924.
5 Neuburger 1924: 353f. und Vorwort. In der Radio-Umschau 1924 (Nr. 9, S. 223) wird der Bandlautsprecher ebenfalls kurz vorgestellt, sein möglicher Verkaufspreis auf ca. 1100 Goldmark geschätzt und als "außerordentlich hoch" eingestuft.
6 "Der Kölner Glockenweihetag" im Kölner Stadt-Anzeiger und "Die Weihe der St. Petersglocke" in der Kölnischen Volkszeitung, beide vom 1.12.1924 (Morgenausgabe).
7 Schumann 1926: 294.
8 Trendelenburg 1950: 1, das Dokument wird aufbewahrt im Siemens-Archiv in München (herzlichen Dank für die Möglichkeit, zahlreiche Materialien im Siemens-Archiv einzusehen). Handschriftlich vermerkt Trendelenburg auf dem ersten Blatt des Manuskripts: "H. J. v. Braunmühl sagte nach dem Vortrag zu mir: Das war alles sehr nett, aber der Titel des Vortrags hätte besser gehiessen ’25 Jahre, und immer noch keine klanggetreue Schallübertragung‘ womit er sehr recht hatte. F. T."
9 Trendelenburg 1950: 6. Interessanterweise kommt W. O. Schumann in seinem Aufsatz über die in München benutzte "Musik- und Sprachverteilungsanlage", der sich ansonsten weitgehend mit Trendelenburgs Erinnerungen deckt, zum genau umgekehrten Schluss: "Eine gewisse Beeinträchtigung der Wiedergabe war verursacht, weil es nicht möglich war, die Musikerzeugung in einem Raum mit allseits gedämpften Wänden vorzunehmen, sondern in dem normalen großen Saal für Musikinstrumente." (Schumann 1926: 295).
10 Gerdien 1926: 35.
11 Trendelenburg 1927: 1691.
12 Gerdien 1926: 33.
13 Vgl. Ehlert 2003.
14 "Lautsprecher" 1927: 683f.
15 Die Angaben entstammen dem vermutlich 1930 gedruckten Siemens-Werbeprospekt "Lautsprecheranlagen in Parlamenten" (Siemens-Archiv: 35-79/Le717 – auch Quelle für den nachfolgend erwähnten Siemens-Prospekt).